Nun, die russische Propaganda, auch wenn man ihr ja nicht trauen kann, lautete zu Beginn anders und das taktische Vorgehen zunächst mit massiven Kräften auf Kiew spricht für mich auch dagegen. Wenn man Kiew genommen und eine russlandtreue Regierung eingesetzt hätte, wäre das Problem ja auch behoben worden.
Denn was Putin ja eigentlich will sind die Rohstoffe, vor allem die Erdgasvorkommen, die im Osten der Ukraine (und auch um die Krim herum) liegen. Daher ist es für den Kremel auch kein allzu großer Verlust, wenn man jetzt nicht mehr die ganze Ukraine packt. Das wichtige Hauptziel des Kremels, dass mit der Ukraine kein Konkurrent um die Gaslieferungen in die EU entsteht, erreicht man auch ohne komplette Besetzung der Ukraine.
Es würde sogar reichen, wenn es wie seit 2014 einfach dauerhaft instabil genug bleibt, dass keiner die Gasquellen anzapft.
Generell ist deine Vorsicht bei dem schnellen Vorstoß nicht unbegründet, haben wir ja schon in der Geschichte mehrfach erlebt, dass Russland dann wieder zurückgeschlagen hat. Nur gibt es einige Punkte, die für mich aus militärtaktischer Sicht dem entgegenstehen:
1. Das Gelände in das die Ukrainer vorgerückt sind eignet sich durch die geographischen Gegebenheiten wie dem dem im Video gezeigten Oskil Fluss und die Wälder um Izium ungefähr genauso gut zum Verteidigen, wie Gegend um Charkiv. Das mit Abstand offenste und beste Gelände um einen ukrainischen Angriff abzuschlagen, bzw festlaufen zu lassen um dann einen Gegenschlag gegen geschwächte Ukrainer durchzuführen, liegt meines Erachtens in der Ebene zwischen Charkiv und Kupjansk, durch die die Ukrainer vorgestoßen sind. Dort hätte die Russische Armee in der Verteidigung mit ihrer Artillerie und Luftüberlegenheit mangels Deckungsmöglichkeiten für die Ukrainer perfekt zuschlagen können, was nicht geschehen ist. Da auch Izium wieder in ihrer Hand ist, kann sich die ukrainische Armee, gedeckt durch den Abstand und die Wälder welche sich fast wie eine Linie von dort nach Charkiv hochziehen (kann man auch schön auf Google Maps sehen), auch recht gut in den neuen Stellungen versorgen, ohne Angst vor russischer Aufklärung haben zu müssen.
2. Kupjansk war ein wichtiger Knotenpunkt, da die angreifenden russischen Kräfte weiter südlich darüber versorgt wurden. Die Versorgung muss nun wieder einen größeren Bogen machen, was den Vormarsch der angesprochenen Kräfte erschweren dürfte. Es hätte mehr Sinn gemacht die Ukrainer genau beim Vormarsch auf diesen Knotenpunkt in der offenen Ebene wo die Russen nun mal im Vorteil sind abzufangen.
3. Das zurückgelassene Material versorgt die Ukrainer nach mancher Aussage besser oder genauso gut wie die Waffenlieferungen aus dem Westen. Wäre das ganze geplant, hätte man entweder das Material abgezogen, nicht mehr nutzbar gemacht oder mit Sprengfallen versehen, damit die Ukrainer Verluste erleiden während sie dieses erkunden. Munitionsdepots zurücklassen, ohne zumindest zu versuchen diese zu sprengen, ist bei einem geplanten Gegenangriff auch eher unüblich, zumal man darauf wetten kann, dass die Ukrainer diese nicht an Ort und Stelle lassen werden, sodass die Russen wissen wo sie sind.
4. Es gibt die taktische Aktivität Verzögern, bei der man Raum für Zeit opfert und was häufig zur Vorbereitung entweder einer festen Verteidigung oder eines Gegenangriffs dient. Dabei versucht man allerdings aus vorbereiteten Stellungen so gut wie möglich den Feind auf seinem Vormarsch abzunutzen und eigene Kräfte zu schonen. Nach allem was ich bisher gesehen habe, ist das beim ukrainischem Angriff nicht mal im Ansatz passiert.
5. Dieser Punkt ist aus strategischer Sicht der wichtigste: Die Zeit. Ein russischer Gegenangriff hätte schon längst (nach meinem Bauchgefühl spätestens Mittwoch) erfolgen müssen, da die Ukrainer nun ausreichend Zeit hatten sich in den neuen Stellungen einzugraben und ihre Truppen zu versorgen. Gegen einen eingegrabenen Feind im Wald braucht man nach gängiger Lehre mindestens ein 3 zu 1 Überlegenheit, wenn man Aussicht auf Erfolg haben will. Im urbanen Gelände steigt das ganze auf 9 zu 1. Wir haben gesehen wie gut die Ukrainer inzwischen darin geworden sind sich in ihren Städten zu verteidigen.
Wenn man die Ukrainer also mit der von dir genannten Taktik hätte schlagen wollen, wäre der beste Moment dafür bereits verstrichen.
Aber wie gesagt, nichts ist so beständig wie die Lageänderung. Ich zähle hier Argumente auf die halt für mich dagegen sprechen, dass das von Russland so geplant wurde.
PS: Das man den Tag nicht vor dem Abend loben sollte, da gebe ich dir natürlich völlig recht Holle